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Barenboim, Makela and Shelley in Lucerne

Barenboim, Makela and Shelley in Lucerne

Große Musik geschieht den Interpreten; sie machen sie nicht. Arbeit ist dabei durchaus vonnöten: Als verkörperte innere Bereitschaft, aber die Musik tritt ins Leben in dem Moment, wenn sie aus dem Wollen entlassen wird. Der Gambist und Dirigent Jordi Savall hat einmal beschrieben, dass das in Momenten der Krankheit oder der Erschöpfung der Fall sein kann und die Ausübenden plötzlich mit einem Gelingen beschenkt werden. So beschenkt werden Daniel Barenboim, Anne-Sophie Mutter, das West-Eastern Divan Orchestra und das Publikum im Luzerner Konzert- und Kongresszentrum (KKL), als hier das Violinkonzert von Johannes Brahms neu ins Leben tritt.

Barenboim, mittlerweile 81 Jahre alt und von schwerer Krankheit gezeichnet, ist ein zarter Greis geworden, ein Wesen wie aus Porzellan und Pergament gewirkt. Er dirigiert im Sitzen, beschränkt sich auf wichtigste Gesten wie Tuttischläge und intrikate Soloeinsätze, manchmal dämpft er das Orchester ab, damit es Mutters Solovioline nicht überdeckt. Aber er weiß mit untrüglicher Sicherheit, wie die Harmonik des Stücks auch die Farb- und Lautstärkewechsel steuert.

Die wichtigste Bühne

Es gibt jähe Pianissimi der Entrückung bei Brahms, Heimsuchungen wehmütigen Glücks, ein Staunen über Wunder der Gegenwart, ein Überfallenwerden von Erinnerungen. Sie gelingen Barenboim und seinem utopischen Orchester, das mitten in den politischen Verheerungen unserer Tage noch immer an der Möglichkeit einer israelisch-palästinensischen Verständigung festhält, mit schmerzlich-schöner Weichheit.

Anne-Sophie Mutter stellt sich mühelos ein auf das deutlich verlangsamte Grundtempo. Gelegenheiten zu wuchtigen Akkorden wird sie noch genug bekommen, aber sie legt es gar nicht darauf an, beim Zurücktreten des Orchesters ihre Kraft und Brillanz in Szene zu setzen. Sie nimmt Barenboims Einladung zum lyrischen Innehalten an, singt an stillen Momenten mutig mit halber, gar mit ergriffen brechender Stimme auf ihrer Geige und lässt uns so gerade nicht alles um uns vergessen, sondern macht uns das Unwiederbringliche bewusst.

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Das Lucerne Festival ist und bleibt die international wichtigste Bühne für die Orchesterkultur der klassischen Musik, für den Stand ihrer Kunst, für Trends und Bedenklichkeiten gleichermaßen, für Debüts und Adieus. Vom Komponisten Wolfgang Rihm, der am 27. Juli verstarb, wird hier in diesem Jahr auf mehrfache Weise Abschied genommen. Rihm hatte mit seinem Orchesterwerk „In-Schrift“ 1998 das damals neue KKL musikalisch eröffnet und fast ein Jahrzehnt lang das Composer Seminar des Festivals geleitet, in dem junge Komponistinnen und Komponisten ihre Arbeit an den Bedingungen der Aufführbarkeit erproben können.

Die Lucerne Festival Academy – zusammen mit dem Lucerne Festival Contemporary Orchestra ein beachtliches Plädoyer für die neue Musik bei einem Festival, das nur, worauf der Intendant Michael Haefliger mit Recht hinweist, im einstelligen Prozentbereich öffentliche Förderung bekommt – hätte ihr zwanzigjähriges Bestehen gern mit Rihm gefeiert. Jetzt wird er fehlen, wie die Pianistin Helga Karen es in einer anrührend leichten Rede sagt: mit seiner sanften Stimme, die Ernstes freundlich sagen konnte, mit seiner Ermutigung, mit seinem Lächeln.

Zweifel an Mäkeläs Können

Die diesjährige Residenzkomponistin des Lucerne Festivals, Lisa Streich, ist aus dem Composer Seminar hervorgegangen. Ihr neues Stück „Reigen“, vom Lucerne Festival Contemporary Orchestra unter der Leitung von Johanna Malangré zur Eröffnung dargeboten, folgt gewisser­maßen der von Odo Marquard reformulierten elften Feuerbach-These von Karl Marx: „Die Avantgardisten haben die Musik nur verschieden verändert, es kömmt aber darauf an, sie zu verschonen.“

Sie hat das musikalische Wien Arthur Schnitzlers oder eher Johann Strauß’ in Geräusche von Schwirrschläuchen und Pfiffen ge­bettet. Man hört eher besorgtes Mitleid mit den Idiomen der Vergangenheit als ein selbstbewusstes Auftreten unserer Gegenwart. Den konventionellen Forderungen nach Originalität und Innovation begegnet diese Musik mit einem entwaffnenden „Ach so?“. Das Eingeständnis, selbst nicht recht weiter zu wissen, schwingt dabei mit.

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Für die Zukunft der Repertoirepflege erwartet sich der Markt viel von dem achtundzwanzigjährigen Dirigenten Klaus Mäkelä. Nachdem er schon als Frühzwanziger in der Topliga der internationalen Orchester lanciert wurde, beginnt sich die internationale Kritik seit diesem Frühjahr, als er neben der Chefposition beim Concertgebouworkest Amsterdam auch beim Chicago Symphony Orchestra nominiert wurde, von ihm abzuwenden. Alex Ross geißelte im April im „New Yorker“ die Einfallslosigkeit der Orchestermanager und beschrieb Mäkeläs Neueinspielung von Strawinskys „Le sacre du printemps“ als entbehrlich. Auch die Wiener Kritiker zweifelten im Frühjahr an Mäkeläs Können. Was aber am schwersten wiegt: Die finnische Kritik fällt inzwischen, was dort eigentlich ein Tabu ist, ihrem eigenen Landsmann in den Rücken.

Mit weniger Druck und mehr Delikatesse

In Luzern entwickelt Mäkelä am Pult des Lucerne Festival Orchestra die Musik von außen nach innen, denkt von Stimmung und Vorurteil her, nicht von Stimmen und Details. An Felix Mendelssohn Bartholdys Ouvertüre „Die Hebriden“ sind ihm die Nebelschwaden des oberen Orgelpunkts auf Fis wichtiger als die thematischen Bewegungen darunter; später macht er mit Schiffsmanövriersi­gnalen Oberflächeneffekt. Von wichtigen Linienkreuzungen oder Schlüsseldissonanzen, die durch Dynamik und Farbe inszeniert werden müssten, von Tonartenplänen – die Barenboim zur Grundlage jeder Partitureinrichtung macht – weiß er nichts.

Im Kopfsatz von Robert Schumanns zweiter Symphonie hört man ein Dauerfeuer von Akzenten, das die Großform nicht mehr atmen lässt, weshalb keine wirklichen Höhepunkte entstehen. Es ist ein Fluch, dass dieser begabte junge Mann im grellen Licht der Öffentlichkeit reifen muss, statt es in Stille zu dürfen. Er braucht Schutz, Rückzug und einen Mentor – und zwar dringend, sonst spuckt ihn der Markt mitleidlos aus, wenn der Zauber der Jugend verflogen ist.

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Riccardo Chailly, der tatsächlich den Mut hat, nach dem sensationellen Einspringen von Paavo Järvi im vergangenen Jahr auf die Chefposition beim Lucerne Festival Orchestra zurückzukehren, beweist sein Können in Gustav Mahlers siebter Symphonie mit einer doppelbödigen Erzählung des Unbehagens, der musikalischen Beschreibung zerstörten Vertrauens in alles Vertraute.

Er lässt, sehr sympathisch, mit weitaus weniger Druck und mehr Delikatesse spielen als in früheren Jahren. In der ersten „Nachtmusik“ erspürt er die geschwulstartig überdehnten Phrasenenden und eine Vergnügungsindustrie, die der Nacht alles Geheimnis geraubt hat. Und in der zweiten „Nachtmusik“ hören wir bei Chailly jene gereizte Gemütlichkeit, wie sie dominante Mütter bei Familiengeburtstagen anzuberaumen pflegen. So klingt erfahrungssattes Musizieren.